Grüne Weiten

Die Plattenbaugebiete der DDR werden in der Regel mit Naserümpfen betrachtet. Dabei kommt die bundesdeutsche Nachkriegsarchitektur wenig anspruchsvoller daher. Seltsamerweise leben in vielen der Wohnungen noch immer die Erstmieter, obwohl wir seit 34 Jahren Westen sind und es jetzt beliebig teure Alternativen gibt. Aber vielleicht liegt es nicht nur an der sozialverträglichen Höhe der Miete.
Für Menschen, die Flugblätter verteilen, sind die Plattenbaugebiete die beste Gelegenheit, um schnell viele Leute zu erreichen. Also war ich in den letzten Wochen oft da unterwegs: in Winzerla, im Tümplingviertel und in Jena-Nord. Was mir in allen drei Gebieten auffiiel, war die Großzügigkeit, mit der sie geplant sind. Zwischen den „Arbeiterschließfächern“ ist jede Menge Platz für Wiesen, Bäume, Gesträuch, Spielgeräte, Bänke und Fußwege. Sie sind derzeit überwältigend grün. Da und dort wurden kleine Vorgärten mit Blumen angelegt – mutmaßlich unorganisiert. Menschen spazieren herum, Kinder spielen Ball, und gelegentlich findet eine Party im Freien statt. Der Raum ist öffentlich. Zäune, wo es denn welche gibt, sind eine Erfindung der letzten 30 Jahre. Es gibt sogar ordentlich beschriftete Blühwiesen.

Jena-Winzerla. Ja, da stehen 5- und 6-Geschosser, aber eben auch Bäume


Schattige Parklandschaften umgeben die „Platte“ – und erwecken inzwischen Begehrlichkeiten. Kann man da nicht noch ein paar Häuser dazwischen quetschen und nachverdichten? Wozu Bäume (in großer Vielfalt – Linden. Ahorn, Platanen, Baumhasel, Kiefer …), wenn man auch Beton haben kann? Das nennt man dann allen Ernstes „Aufwertung“. An Grünzeug verdient schließlich keiner was, das macht nur Arbeit
Alles, was nach der Wende gebaut wurde, ist wahrscheinlich innen auf einem höheren Standard, aber sehr viel enger. Die Friedensberg-Terrassen, für die es sogar einen Architekturpreis gab, sind so dicht gepackt wie irgend möglich. Zwischen den Häusern und viel gepflasterten Wegen liegen winzige Gärtchen, die zu den Erdgeschosswohnungen gehören. Keine kommunale Weite, sondern private Enge. Der „Quartiersplatz“ ist sehr schön eckig und sehr pflegeleicht. Da wächst kein einziges Unkraut, und die spärlichen Bäumchen wirken wie Fremdkörper. Das versteht die Stadt unter klimaangepasster Architektur: viel Stein, viel direkte Sonne, viel Trockenheit.

Jena, Friedensberg-Terrassen


Natürlich ist auch das preisgekrönte Betonviertel vollständig bewohnt. Wohnraum ist knapp. Aber schön ist etwas anderes.
(MIr ist bewusst, dass die unterschiedliche Beleuchtung nicht ganz ausgewogen ist – aber man muss die Fotos machen, wo und wann man gerade Flugblätter wirft. Irgendwann hole ich das bei Sonnenschein nach.)

Über Heidrun Jänchen

Physikerin, Autorin von Fantasy und Science Fiction und als Mitglied der Bevölkerung engagierte und unangepasste Bürgerin
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