Lesen bildet: Physik für alle!

Einstein

Physiker unter sich

Die Deutsche Physikalische Gesellschaft hat eine Studie zum Physikunterricht vorgelegt. Darauf aufmerksam geworden bin ich, weil Hadmut Danisch dazu einen Blogpost unter dem Titel „Politisch korrekte Mädchenphysik“ veröffentlicht hat. Das kam mir komisch vor, denn die DPG ist naturgemäß eine eher bodenständige Männergesellschaft. Also habe ich gelesen – den Post und die Studie „Physik in der Schule„.
Auf 14 Seiten Zusammenfassung gibt es exakt einen Absatz, der sich dem Problem Mädchen und Physik widmet. In der Langfassung ist es eine Seite von 148, also nicht ganz 0.7 %. Danisch freilich erweckt durch geschicktes Aus-dem-Zusammenhang-Reißen von Zitaten den Eindruck, es ginge im Wesentlichen darum, den Physikunterricht so abzurüsten, dass auch Mädchen mitkommen und sich einbilden, sie könnten Physik studieren – nur um dann als unbrauchbare Absolventen den Arbeitsmarkt zu verstopfen. Diese Interpretation lässt nur einen Schluss zu: Der Mann hat Probleme mit seiner Lesekompetenz.
Nicht einmal das, was die Studie zum Mädchenproblem sagt, passt im Mindesten zu seiner Interpretation. Da steht, wegen tief verwurzelter Vorurteile gelte Physik noch immer als extrem unweiblich und sei deshalb schwer mit dem Selbstbild der Mädchen vereinbar. Nach meiner Erfahrung muss sich ein Mädchen, das gut in Physik ist, ständig dafür rechtfertigen. Physiker gelten allgemein als verschroben, Physikerinnen schlicht als abnormal. Kein Wunder, wenn technische Talente sich am Ende entnervt für Sozialpädagogik entscheiden. Das war’s in der Studie auch schon.
Tatsächlich fordert die DPG, die Stofffülle im Physikunterricht einzukürzen und lieber weniger, aber dafür besser zu vermitteln. Den Grund unterschlägt Danisch: Wie ein Refrain zieht sich die Forderung nach einer Erhöhung der Stundenanzahl durch die Studie. In Thüringen hat man die Stundenzahl der MINT-Fächer in der heutigen Sekundarstufe 1 gegenüber der POS der DDR um rund 19 % zugunsten von Sprachen und Geisteswissenschaften gekürzt, und in der Abiturstufe kann Physik bundesweit abgewählt werden. Einzige Ausnahme ist Sachsen. Nach der 10. Klasse hätte ich Physik abgewählt. Nach der 12. Klasse habe ich Physik studiert.
Außerdem gibt es in der Sekundarstufe 1 eben nicht nur Schüler, die Physik, Informatik oder Maschinenbau studieren wollen. Es gibt auch künftige Bäcker, Kraftfahrer und Fliesenleger. Die sollen, meint die DPG, wenigstens Grundprinzipien ins Leben mitnehmen. Stattdessen werden sie mit der stark mathematischen Vermittlung physikalischer Phänomene gleich zu Anfang abgeschreckt und machen dicht. Wenn Physik nicht mehr abwählbar wäre, hätte man immer noch die 11. und 12. Klasse, um die abwegigeren Gebiete zu beackern.
Schließlich und endlich ist Methodenkompetenz kein feministischer Quark. Von den Fakten und Formeln, die ich mir während meines Studiums in mein Hirn geschaufelt habe, habe ich später im Beruf keine 10 % gebraucht. Aber ich wusste, wie man Daten in eine verdauliche Form bringt, wie man Versuche plant, was man tut, wenn einfach nicht das gewünschte Ergebnis eintreten will – und wie man das tatsächlich nötige Wissen auftreibt und verinnerlicht.
Wenn Danisch meint, Mathe sei im Informatik-Studium zwar der Hammer gewesen, im Nebenfach Physik aber sei er mit seinen Kenntnissen aus dem Abi-Leistungskurs super zurechtgekommen, dann liegt es daran, dass er mit echter Physik nicht in Berührung gekommen ist. Nach fünf Jahren Physikstudium wusste ich im Wesentlichen, was ich alles nie wissen werde, und vier Jahre Promotion haben das Gefühl der Ohnmacht gegenüber der unendlichen Menge von Wissen noch vertieft. Wie soll man den „vollständigen Kanon der Physik“ dann einem zukünftigen Bäcker vermitteln?
Es ist immer wieder erstaunlich, zu welch absurden Interpretationen man mit ideologischen Scheuklappen kommen kann (hier: einer gediegenen Misogynie). An der Studie der DPG liegt es jedenfalls nicht. Die sagt klar: Wir brauchen mehr Physik. Für alle. Aber vielleicht weniger Formeln und standardisierte Lösungswege und dafür mehr Nachdenken.

PS: Wer sich ernsthaft fragt, warum es ein Wert an sich ist, dass Frauen Physik studieren, der sollte mal ein paar Physik-Studenten fragen, die keine abbekommen haben.

Über Heidrun Jänchen

Physikerin, Autorin von Fantasy und Science Fiction und als Mitglied der Bevölkerung engagierte und unangepasste Bürgerin
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3 Antworten zu Lesen bildet: Physik für alle!

  1. Jenenserin schreibt:

    ein Spitze Beitrag Heidrun ! Das ist Pflichtlektüre für alle Kultusminister !!!

  2. Jenenserin schreibt:

    Das ist mein Lieblingsbeitrag von dir, immer noch und schon öfter in Facebook geteilt. Gerade wenn es um Bildung geht.

    • Heidrun Jänchen schreibt:

      Die Studie der Deutschen Physikalischen Gesellschaft ist eigentlich noch besser, aber natürlich weniger kurzweilig und viel länger. Fakt ist: Wir brauchen mehr Physik in der Bildung, damit wir verstehen, wie die Welt funktioniert.

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